„Was schrumpft, muß sich zuvor dehnen.
Was abnimmt, muß zuvor stark sein.
Was niedergehalten wird, muß sich zuvor erheben.
Vor dem Empfangen muß erst das Geben da sein.
Dies wird die Wahrnehmung des Wesens der Dinge genannt.
Das Weiche und Schwache überwindet das Harte und Starke.“
Lao Tse, Tao Te King (36)
Wir erleben die Welt in Gegensätzen. Helleres wird nur im Kontrast zu dunklerem wahrnehmbar, wärmeres nur im Kontrast zu kälterem. Die chinesische Philosophie des Taoismus spricht hier von den Gegensätzen „Yin & Yang“, die uns inzwischen auch im Westen geläufig und insbesondere durch die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) wohlbekannt sind.
Dennoch mißverstehen wir die wahre Natur dieser Gegensätze durch unser westlich geprägtes Denken häufig. Wir sind es z.B. gewohnt, den einen Gegensatz schlicht als „Abwesenheit des anderen“ zu definieren. So ist „Kälte“ für uns schlicht die „Abwesenheit von Wärme“. Doch das ist bei genauerem Hinsehen nicht ganz korrekt. Denn in diesem Fall müßten wir eine bestimmte Temperatur immer ähnlich empfinden. 15° C am Morgen fühlen sich aber interessanterweise meist viel wärmer an, als 15° C am Abend. Das liegt daran, daß wir am Morgen die Zunahme der Energiequalität „Wärme“ registrieren (und uns darauf einstellen), während wir am Abend die Zunahme der Energiequalität „Kälte“ registrieren (und uns darauf einstellen). Entsprechend ist unser Erleben derselben Temperatur unterschiedlich.
In der chinesischen Philosophie und Medizin werden „Wärme“ und „Kälte“ als zwei gegensätzliche, aber eigenständige Energiequalitäten erkannt. Sie sind eigenständig, denn sie sind nicht nur die „Abwesenheit“ des anderen. Daher können wir die eine Qualität IN der anderen wahrnehmen, z.B. eben das Herannahen der Kälte als beginnendes Frösteln, auch wenn es (noch) warm ist. Oder das Herannahen der Wärme als „Schutz vor der Kälte“, auch wenn es (noch) kalt ist. Das Yin-Yang-Symbol macht genau dieses „Ineinander zweier Kräfte“ durch die gegensätzlich gefärbten Punkte in den Symbolhälften deutlich. Mit diesem Verständnis werden auch die Nuancen dieser Energiequalitäten besser erfaßbar: Weshalb es (bei gleicher Temperatur) z.B. eine Kälte gibt, die uns kaum frieren läßt, während eine andere die „unter die Haut geht“ oder gar „in die Knochen kriecht“. Oder umgekehrt, weshalb es (bei gleicher Temperatur) eine Wärme gibt, die belebt, während eine andere „drückt“ oder gar „lähmt“. Beobachten Sie „Wärme“ und „Kälte“ einmal als eigenständige Energiequalitäten und Sie werden sehen, daß Ihnen Ihr tägliches Erleben und Empfinden verständlicher wird. Übrigens auch bei der Beobachtung seelischer „Wärme“ oder „Kälte“…
Noch deutlicher wird die Eigenständigkeit der Gegensatzpaare jedoch bei einem anderen Wechsel des Erlebens, den wir tagtäglich haben: Nämlich dem Gegensatz „Ruhe und Aktivität“. Auch hier läßt sich das eine als die „Abwesenheit des anderen“ mißverstehen, da wir jede Qualität umso deutlicher wahrnehmen, je stärker der Kontrast zum Gegenteil ist. Der indische Guru Osho (früher Bhagwan Shree Rajneesh) nutzte diesen Effekt z.B. in seinen „dynamischen Meditationen“, die meist mit intensiver, sich bis zur Ekstase steigernden Bewegung begannen, um dann plötzlich abzubrechen und in der Regungslosigkeit die Erfahrung der Stille zu ermöglichen. Diese Meditationen sind gerade auf uns Menschen im Westen zugeschnitten, die wir meist keine „Kultur der Stille“ pflegen und daher häufig von der „Kraft der Ruhe“ abgeschnitten sind. Das Resultat davon nennt sich übrigens „Streß“! Durch den abrupten Wechsel von einem Extrem (ekstatische Bewegung) zum anderen (völliges Stillhalten) gelingt es in diesen Meditationen gerade Ungeübten besser, einmal innere Stille zu erleben. Die Wahrnehmung einer bestimmten Energiequalität wird eben durch den Kontrast zum Gegenteil deutlicher.
Dennoch ist auch bei „Ruhe und Aktivität“ das eine nicht nur die Abwesenheit des anderen. Gerade das wird bei der Praxis der o.g. Meditation deutlich. Während der Wechsel von der Bewegung in die Regungslosigkeit in manchen Fällen tatsächlich zu einer tiefen inneren Stille und unendlichen Zeitlosigkeit führt, stürzt man in anderen Fällen in ein lärmendes Rattern der eigenen Gedanken und eine innere Unruhe, wie ein eingesperrtes Raubtier im Käfig. Von Stille keine Spur. Die Abwesenheit des einen Gegensatzes führt also NICHT AUTOMATISCH zum Erleben des anderen!
Und genau das erfahren wir im Alltag täglich: Wie oft freuen wir uns auf den Abend, das Wochenende oder den Urlaub, wenn wir endlich von der Hektik und Betriebsamkeit des Alltags Abstand nehmen können. Und wie oft gelingt es uns dann doch nicht, „abzuschalten“, wie oft tragen wir die Hektik und Betriebsamkeit innerlich weiter? Wie oft stellen sich Ruhe und Entspannung erst nach langer Zeit ein – gerade wenn der Urlaub zu Ende geht… Es ist eines der größten Mißverständnisse, zu erwarten, daß sich Ruhe und Stille einfach so „einschalten“, wenn wir mit unserer Aktivität nachlassen. Als wäre Ruhe automatisch „da“, wenn die Aktivität geht. Doch genau das funktioniert meistens nicht! Denn auch „Ruhe“ und „Aktivität“ sind eigenständige Qualitäten, die zwar im Gegensatz zueinander stehen, aber jede für sich entwickelt und gepflegt werden wollen. Es gibt gewissermaßen eine „Fähigkeit zur Aktivität“ (ohne diese sind wir träge) und eine „Fähigkeit zur Ruhe“ (ohne diese sind wir rastlos).
Gerade weil diese beiden Qualitäten eigenständig sind, können wir auch hier das eine im anderen erleben. So führt eine regelmäßige Meditationspraxis z.B. zur Entwicklung einer beständigen inneren Ruhe, die wir auch dann in uns tragen, wenn wir äußerlich aktiv sind, selbst in hektischen Zeiten! Das Resultat ist dann deutlich weniger „Streß“. Oder umgekehrt kann das Entwickeln der „Fähigkeit zur inneren Aktivität“ helfen, aus Trägheit und Apathie, der negativ empfundenen „inneren Leere“ herauszukommen, die durch rein äußere Aktivitäten oft nur überspielt, aber nicht überwunden werden kann. „Innere Aktivität“ wäre in diesem Fall zu übersetzen mit „aktiver geistiger Beteiligung am Leben“, im ausgeprägten Fall also mit „Be-geist-erung“.
Wenn wir „Ruhe“ und „Aktivität“ als eigenständige Qualitäten und Fähigkeiten begreifen, von denen eine in der anderen wahrgenommen werden kann, dann lassen sich daraus vier grundsätzliche Formen des Erlebens (mit fließenden Übergängen) ableiten:
1. Ruhe in der Ruhe
(z.B. in einer stillen Meditation oder tiefen Betrachtung)
2. Ruhe in der Aktivität
(z.B. innere Gelassenheit in dynamischen Aktivitäten)
3. Aktivität in der Aktivität
(z.B. völliges Aufgehen in der Bewegung, Ekstase = griech. „das Aus-sich-heraus-treten“)
4. Aktivität in der Ruhe
(z.B. geistig-kreative Prozesse, das „Gebären einer Idee“)
Jede dieser vier Formen des Erlebens ist im Grunde neutral, also weder positiv, noch negativ. Positiv wird das Erleben, wenn es unseren Wünschen und/oder den Anforderungen des Augenblicks entspricht, z.B. wenn wir im Schlaf tatsächlich die gewünschte „Ruhe in der Ruhe“ (= Erholung) finden, oder aber die gewünschte „Aktivität in der Ruhe“ (= kreative Träume), die uns am Morgen mit neuen Ideen erwachen läßt. Oder wenn es uns gelingt, bei der Arbeit die „Ruhe in der Aktivität“ zu wahren (streßfrei zu schaffen) oder am Abend bei Sport und Tanz die „Aktivität in der Aktivität“ (= den Rausch der Aktion“) zu erleben, das völlige Aufgehen in der Bewegung…
Negativ werden die vier Formen des Erlebens, wenn sie „unpassend“ auftreten, wenn die „Aktivität in der Ruhe“ z.B. zur beständigen inneren Unruhe wird und uns den Schlaf raubt. Oder wenn die „Ruhe in der Aktivität“ lähmend wirkt und wir morgens nicht in die Gänge kommen.
Bei genauerem Hinsehen wird hierbei deutlich, daß wir alle vier Formen des Erlebens als positiv empfinden, wenn wir sie wandeln können, d.h. aus eigenem Antrieb von einem Erleben zum anderen wechseln können. Umgekehrt erleben wir sie als negativ und mitunter äußerst lästig, wenn uns diese Wandlungsfähigkeit fehlt und wir einem bestimmten Erleben unterworfen sind, ob es uns paßt oder nicht. Innere Balance und Gesundheit entstehen also durch Wandlungsfähigkeit – eine Kernaussage der chinesischen Philosophie und Medizin!
Um diese Wandlungsfähigkeit zu erreichen, ist es ratsam, beide Qualitäten als Fähigkeiten zu entwickeln: Die „Fähigkeit zur Aktivität“ (z.B. als Motivation, Begeisterungsfähigkeit, Tatkraft) hängt dabei eng mit unseren Lebenszielen zusammen, mit dem Streben, etwas bestimmtes zu erreichen (ist da kein solches Streben, keine Motivation, dann haben wir möglicherweise vergessen, was wir eigentlich wollten). Die „Fähigkeit zur Ruhe“ (z.B. als innere Sammlung, Gelassenheit, Geduld und Friedfertigkeit) hängt dabei eng damit zusammen, ob wir die Situation, in der wir stehen, annehmen und akzeptieren können (oder anders ausgedrückt: ob wir die Ablehnung bestimmter Dinge loslassen können). Schon die bewußt beschlossene Bereitschaft zur Akzeptanz und Hinwendung wirkt hier manchmal Wunder.
Beide Fähigkeiten lassen sich auch trainieren. Die „Fähigkeit zur Aktivität“ wird durch jedes sportliche Training oder jede kreative Tätigkeit gestärkt, da wir durch die Wahrnehmung unserer Leistungsfähigkeit und unserer kreativen Gaben Vertrauen in unser Tun, in unsere schöpferische Tätigkeit gewinnen. Die „Fähigkeit zur Ruhe“ wird durch Meditation, stille Betrachtung, Naturbeobachtung, schweigendes Gehen und vieles mehr gestärkt, eben jene „Kultur der Stille“, der wir – wie oben angedeutet – oft zu wenig Raum geben.
Sind wir zu beidem fähig, zur „Ruhe“ ebenso wie zur „Aktivität“, dann ist es möglich, die „Balance von Yin (Ruhe) und Yang (Aktivität)“ zu finden bzw. diese beiden Qualitäten in jede Form des Erlebens zu wandeln. Eine grundlegende und nachhaltige Möglichkeit, Streß und Hektik abzulegen, Trägheit und Apathie zu überwinden sowie Gelassenheit in der Aktivität zu wahren oder Kreativität aus Ruhe zu schöpfen… Einfach glücklicher durch das Spiel des Lebens zu gehen.
Und natürlich gibt es auch Heilsteine, die uns bei der Entwicklung unserer Fähigkeiten unterstützen und uns bestimmte Formen des Erlebens erleichtern:
1. Ruhe in der Ruhe
(z.B. Achat, Aventurin, heller Amethyst, Lepidolith, Magnesit)
2. Ruhe in der Aktivität
(z.B. Bernstein, Bronzit, Chrysokoll, Dumortierit, Tigerauge)
3. Aktivität in der Aktivität
(z.B. Citrin, Feueropal, Malachit, Rhodochrosit, Rubin, Thulit)
4. Aktivität in der Ruhe
(z.B. dunkler Amethyst, Dioptas, Labradorit, Moldavit, Rosenquarz)
Für die Wandlungsfähigkeit an sich und damit die (dynamische) Balance von Yin und Yang, den immer wieder herzustellenden Ausgleich von Aktivität und Ruhe, darf natürlich die Jade nicht unerwähnt bleiben. Da sie stets den „ungelebten“ Anteil fördert und stärkt, kann sie zu jeder Form des Erlebens beitragen – eben zu dem, was gerade gewünscht und gebraucht wird. Daher steht Jade als „Stein der Harmonie“ in der chinesischen Tradition hoch im Kurs. Mineralogisch gesehen zählen zur „Jade“ die Mineralien „Jadeit“ und „Nephrit“. Eine gewisse Ähnlichkeit in der Wirkung zeigt auch transparenter „Edelserpentin“ (mineralogisch „Antigorit“), der oft unter der leider etwas irreführenden Bezeichnung „China Jade“ im Handel ist.
Doch natürlich nehmen uns alle Heilsteine die eigentliche „Arbeit“ nicht ab. Sie unterstützen uns zwar in der Entwicklung unserer Fähigkeiten, doch entwickeln, trainieren, ausprobieren und meistern müssen wir sie schon selbst. Aber jeder Fortschritt macht Spaß, jede Erweiterung unserer Fähigkeiten macht stärker, und wenn wir die Balance von Ruhe und Aktivität einmal gefunden haben und immer wieder herzustellen vermögen, wird das Leben leichter, fließender und freier…
„Wer im Tun das Nicht-Tun erkennt
und im Nicht-Tun das Tun,
der ist wahrlich weise.“
Taoistische Weisheit
[…] meinem letzten Newsletter beichten: In der steinheilkundlich-philosophischen Betrachtung zu “Ruhe und Aktivität” (Newsletter Nr. 32, Juni 2009, Abschnitt 15) war der Hinweis, daß […]