Die Frage nach dem Menschen, der wir wirklich sind, ist eine elementar wichtige Frage. Sie wird bei vielen Menschen im Laufe des Lebens immer wichtiger. Viele Menschen fühlen sich fremddefiniert. Sie finden in ihrem Leben keine Zeit mehr, ihren eigentlichen inneren Bedürfnissen nachzugehen, oder diese auch nur zu spüren. Was aber ist ein Menschenleben dann eigentlich noch? Genügt es, zu überleben, alles „richtig“ zu machen oder erwartungsgemäß zu funktionieren?
Tatsächlich sind Sozialisation und Erziehung darauf ausgerichtet, uns passgenau in ein kulturell definiertes Lebenskonzept einzugliedern. In einigen Teilen unseres Lebens finden wir jedoch Möglichkeiten zum Selbstausdruck und zur Selbstentfaltung. Der Raum dafür wird aber in Zeiten, wo Kinder erzogen und pflegedürftige Angehörige versorgt werden müssen, oder jemand einer fordernden beruflichen Tätigkeit nachgeht, eingeschränkt.
Was ist Selbstausdruck?
Im kreativen Bereich meint Selbstausdruck, dass jemand in der Lage ist, eigenständige und aus sich selbst heraus entwickelte kreative Ideen zu entwickeln, und in Tätigkeiten umzusetzen. Er kann beispielsweise beim Malen seine inneren Farben entdecken, sich beim Musizieren zu einem Feingeist entwickeln, oder beim Schreiben von Romanen sprachlich entwickeln. Das, was dabei sichtbar wird, geht über das hinaus, was Erziehung und Sozialisation als Bezugsrahmen für ein Individuum erschaffen haben.
Der vom Neurobiologen Humberto Maturana entwickelte Begriff der Autopoiese wurde in der Folge als erweiterter Begriff auch auf andere Bereiche übertragen. In der Essenz meint dieser Begriff, dass alles Leben oder alles Lebendige ein selbsterhaltender und sich aus sich selbst erschaffender Prozess ist. Ohne die Möglichkeit zum Selbstausdruck oder zur eigenen Entwicklung jenseits all dessen, was uns von außen definieren will, wären wir wie Maschinen. Es ist gerade ein Kennzeichen des Mensch-Seins, dass wir zum Selbstausdruck streben.
In der Spiritualität ist die Frage nach dem „Wer sind wir?“ die Essenz aller Fragen, die jeder sich stellen sollte. Wenn Menschen sich ständig fremddefinieren lassen und nur das tun, was man von ihnen erwartet, leben sie wie auf Autopilot und in beengenden Mustern. Sie gehen sich selbst verloren. Viele Menschen erkennen niemals, welche Potenziale sie ungenutzt in sich schlummern lassen. Selbstausdruck verlangt nach Bewusstheit und Erkenntnisprozessen.
Die Beschäftigung mit Bewusstseinsprozessen, inneren Befindlichkeiten, geistig-seelischen Blockaden, verdrängten und verleugneten Persönlichkeitsanteilen, aber auch mit Philosophie, Religion oder psychologischen Erkenntnissen bringt Menschen dem näher, was sie eigentlich sind: sehr viel mehr als nur ein erwartungsgemäß funktionierendes Glied einer bestimmten Gesellschaft.
Wie verhilft Selbstausdruck zu persönlicher Entwicklung und Gesundheit?
Wer ein ganzes Leben lang die Erwartungen anderer erfüllt und dabei den hohen Preis der Selbstverleugnung und Selbstaufgabe zahlt, kann kaum gesund bleiben. Wir Menschen müssen eine gesunde Balance zwischen dem Leben in kulturellen und sozialen Kontexten auf der einen Seite, und der Erfüllung und Berücksichtigung eigener Bedürfnisse auf der anderen Seite finden.
Ob Menschen mittels Yoga-Übungen, einem Ehrenamt oder durch buddhistische Lehrreden mehr Erfüllung finden oder sich kreativ betätigen, ist unerheblich. Wichtig ist, dass es sich dabei um bedürfnisgerechte Tätigkeiten handelt, die das Individuum aus sich selbst heraus als wichtig für die eigene Entwicklung erkennt. Es drückt seine Bedürfnisse und seine Persönlichkeit damit aus. Unwichtig ist dabei die Meinung anderer.
Doch in der Realität kollidiert der Wunsch nach mehr Selbstausdruck oft mit den Ansprüchen und Realitäten anderer. Viele Ehemänner sehen es nicht gerne, wenn die Ehefrau sich durch Improvisations-Theater, die Hinwendung zu Malerei oder Ausdruckstanz Freiräume verschafft und dem Zugriff männlicher Ansprüche entzieht. Andere Männer sind stolz, wenn ihre Frauen eigenständig denken und ihre Eigenständigkeit entsprechend ausdrücken. Gleiches gilt für Frauen in Bezug auf ihre Partner oder den Nachwuchs.
Kinder unter 15 Jahren sollten im Streben nach Selbstausdruck behutsam gesteuert werden. Sie können die Folgen ihres Tuns noch nicht abschätzen. Wenn ein junges Genie sich stundenlang mit Matheformeln, Klavier-Partuturen oder Acrylmalerei befasst, sind seelische und gesundheitliche Folgen zu befürchten. Selbstausdruck ist zwar kein Privileg Erwachsener. Dennoch stehen bei Kindern andere Notwendigkeiten im Raum – zum Beispiel das Recht auf eine kindgerechte Kindheit.
Dem Selbstausdruck dienen auf der kreativen Ebene Tätigkeiten wie Malerei, Ausdruckstanz oder Schreiben. Dazu addieren sich das Theaterspielen, die Mitwirkung in einer Rockband, das Interesse an individueller Mode als Form des Selbstausdrucks oder der Auftritt auf „Poetry Slams“. Die Beschäftigung mit spirituellen Themen kann ebenfalls dazu dienen, sich selbst zu entdecken und als das Individuum ausdrücken zu können, das man ist. Wer sich in einer Umweltgruppe engagiert, kann dies genauso als Ausdruck seiner selbst verstehen wie jemand, der als Missionar nach Afrika geht oder bei „Ärzte ohne Grenzen“ seinen Urlaub mit selbstloser Hilfe verbringt.
Wer sich als Christ, Jude, Buddhist oder Muslim definiert, wählt oft einen entsprechenden Lebensstil. Er hält entsprechende Werte hoch, sorgt für andere und lebt das, was er für sich selbst als wahr und wichtig erkennt. Solche Menschen leben gesünder als andere, die Ruhm und Reichtum, Karrierezielen und Prestigeobjekten nachlaufen. Sie stellen sich immer wieder der Frage nach dem, was sie sind, in welchem Kontext und Wertekanon sie sich wiederfinden, und welche Ziele im Leben ihnen wichtig sind. Spiritualität und Psychologie gehen ineinander über. Sie befruchten sich bei der Reise zum Selbst.
Welche Gefahren bestehen bei zu viel Selbstbezogenheit?
Wer das Streben nach Selbstausdruck in den Fokus seines Lebens stellt, muss nicht unbedingt selbstbezogen im Sinne von selbstverliebt oder egomanisch sein. Er nimmt lediglich das, was ihn ausmacht und bestimmt, als Grundlage allen Handelns. Solche Menschen sind nicht hochgradig fremddefiniert und angepasst. Sie nehmen die Entwicklung und Prozesshaftigkeit des eigenen Lebens zum Anlass, sich selbst genügend Raum zu gönnen. Der Raum, in dem anderes stattfindet, sollte ebenso groß sein, damit es nicht zu übermäßiger Selbst-Fokussiertheit kommt.
Auch Künstlern und Wissenschaftlern, die konzentriert ihrem eigenen Interessengebiet nachgehen, und vielleicht sogar Pioniere in ihrem Gebiet sind, tut es gut, sich mit anderen auszutauschen. Berühmte Künstlergruppen, branchenübergreifende Stammtische, Think Tanks und enge Freundschaften mit fachfremden Menschen haben schon immer sehr befruchtend gewirkt. Sie liefern Inspirationen und Ansätze für verfeinerte oder neue Sichtweisen.
Der Dalai Lama hat beispielsweise die Wissenschaft ebenso beeinflusst, wie Wissenschaftler aus der Gehirnforschung und anderen Bereich den Buddhismus geprägt haben, der er heute predigt. Im Gegensatz dazu werden Künstler und Wissenschaftler, die in anderen lediglich einen Konkurrenten sehen, weniger bereichert. Sie sitzen isoliert in einem Elfenbeinturm und hüten das, was sie tun, wie den heiligen Gral.
Oftmals sind es gerade Impulse aus ganz anderen Feldern, die jemandem zu Durchbrüchen im eigenen Forschungsfeld, oder zu ungeahnten gedanklichen Erkenntnissen führen. Daher profitieren Wirtschaft oder Kunst von Wissenschaft – und umgekehrt. Letztlich profitiert alles von allem, wenn es mit den richtigen Dingen verknüpft wird. Entscheidend für den Selbstausdruck sind Häufigkeit und Dosis dessen, was jemand an sich heranlässt – und vor allem, von wem jemand Impulse aufnimmt.
Die stimmige Balance zwischen Selbstbezogenheit, aus der man schöpferische Energien zieht, und Fremdimpulsen ist je nach Lebenssituation, Alter und Gesamtkontext individuell verschieden. Doch sie sollte ausgewogen sein. Teamarbeit oder Impulsaufnahmen durch andere sind ebenso wichtig, wie das ausreichende Zurückgeworfen-Sein auf sich selbst als Ressource. Am glücklichsten und gesündesten sind die Menschen, die sich in ihrem Leben frei entfalten können, ohne das Interesse, die Verpflichtungen oder die Hingabe gegenüber anderen zu vergessen.
Unser Eingebunden-Sein in größere Kontexte als das eigene EGO ist elementar, weil Menschen nun einmal soziale Wesen sind. Wir lernen durch andere. Wir überleben dank anderer. Wir profitieren auf viele Weisen von anderen. Wer nur aus sich selbst schöpfen möchte, erschöpft sich bald in der ichbezogenen Nabelschau.
Fotonachweis: Richard Leeming Kate, posing – flickr – CC BY-SA 2.0