Tantra, ursprünglich ein östlicher Einweihungsweg, der die sexuelle Energie benutzte,
um höchste spirituelle Ziele zu verwirklichen, hat seit einigen Jahren eine westliche Variante für sexuell und spirituell experimentierfreudige Zeitgenossen erhalten – mit den entsprechenden Vor- und Nachteilen. Tantra wird hier oft als legitimierendes Fachwort für eine neue, bewußtere und lebendigere Sinnlichkeit mit einem Hauch von Meditation verstanden. Ein neuer Umgang mit der Lust wird hier propagiert und geübt, wobei hier Lust auch als Synoym für sexuelle Energie verstanden werden kann.
Um das eigentliche Tantra zu verstehen,
bedarf es eines tieferen Blickes in die Mythologie Indiens. Im weitesten Sinne werden in Indien alle religiösen Lehren und Schriften als tantrisch bezeichnet, die nicht den Veden und Upanishaden (klassische religiöse Texte) zugehören. Tantrische Schriften sind meist anonym. Ihre Abfassung wird einem göttlichen Ursprung zugeschrieben. Es kann sich aber auch um die Lehren eines der vielen tantrischen Meister handeln. Eines der bekanntesten Tantras ist der als belehrender Dialog abgefaßte Text zwischen dem Gott Shiva und seiner Gefährtin Parvati. In diesem Text gibt Shiva 112 Ratschläge, wie Parvati die Befreiung von der irdischen Dualität erlangen kann. Einige darunter erklären, wie man das Feuer der sexuellen Vereinigung in göttliche Ekstase umwandeln kann. Der wesentliche Unterschied zu allen anderen religiösen Lehren ist der, daß Sinne und Körper, also auch die Sexualität, dazu benutzt werden, um die Vereinigung der Gegensätze und damit die Transzendenz zu erreichen. Die Triebnatur des Menschen soll nicht beherrscht und kontrolliert werden, wie es das christliche Dogma vorsieht, sondern es wird der bewußte Umgang mit ihr und allem Sinnlichen angestrebt. Die Vereinigung der Götter Shiva und Shakti in der konkreten Form von Mann und Frau entspricht der mythologischen Auffassung der Schöpfung, die in dieser Form die Dualität aufheben und auf eine höhere Ebene des Lebens transzendieren will.
Genau diesen Aspekt haben sich die westlichen Tantra-Lehrer herausgenommen
und als wesentlichen Teil in den Vordergrund gestellt. Mit Hilfe von Atemübungen, westlichen Körpertherapien, sinnlichen Spielen, dynamischen und anderen Meditationen wird nun versucht, die Sexualität bewußter, lustvoller und meditativer zu gestalten. Der eigentliche Akt wird als sinnlicher und spiritueller Höhepunkt bis zuletzt aufgeschoben und erlaubt so ungekannte Variationen sexuellen Experimentierens. Dazu werden – ähnlich wie auch im Tao-Yoga – ganz gezielt Techniken vermittelt, die es dem Mann bzw. dem Paar erlauben, den Höhepunkt beliebig lange hinauszuschieben, um sich für längere Zeit im ekstatischen „Drehzahlbereich“ aufzuhalten. So gesehen leistet westliches Tantra durchaus einen Beitrag zu einem befreiteren, bewußteren Umgang mit der Lust, wenn man nicht der Gefahr erliegt, sich zu sehr auf Rituale und Techniken zu fixieren, sondern es spielerisch einsetzt, um mit dieser elementaren Energie umgehen zu lernen.
Wenn man das Angebot an Tantra-Gruppen
auf dem Psycho- und Esoterikmarkt betrachtet, so fallen einem zuerst die phantasievollen Untertitel auf wie zum Beispiel „Im Garten der Liebe“ , „Perle der Liebe“, „Feuer der Transformation“, „SkyDancing Tantra“, „Transzendenz-Tantra“, „Training für transpersonale Energiearbeit“, „Eros und Meditation“, oder „Alchemie des Herzens“. Begibt man sich dann aber auf ein solches Tantra-Schnupper-Wochenende, so kann es sein, daß man sich zuerst einmal über die vielen Autos der gehobenen Mittelklasse wundert, die vor den Toren des Seminarhauses/ Hotels stehen. Im Gruppenraum angekommen, lasen sich angesichts der legeren Kleidung die sozialen Unterschiede meist nur noch auf den zweiten Blick erkennen. Tantra bzw. der vielversprechende „andere Umgang mit der Sexualität“ zieht Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten in seinen Bann. Geschäftsleute sind genauso vertreten wie Hausfrauen und Angestellte. Obwohl die 30 bis 50jährigen altersmäßig den größten Anteil stellen, findet man auch Twens und Rentner unter den Seminarteilnehmern. Das Thema und Interesse an dem anderen Geschlecht vereint sie alle in der Meditation und bei den verschiedenen sinnlichen oder therapeutischen Übungen und Ritualen.
Der Höhepunkt,
auf den die meisten Tantra-Gruppen hin konzipiert sind, ist nach entsprechender Vorbereitung das gemeinsame Ritual, die Begegnung von Shiva und Shakti (sprich: Mann und Frau) am vorletzten Abend der Gruppe. Nicht alle Gruppen gehen bis aufs „Ganze“. Manche überlassen es der Entscheidung der Teilnehmer, wie weit sie gehen wollen, aber sehr viele verlangen auch als Eintrittsbedingung einen Aids-Test und stellen (im Preis inbegriffen) Kondome zur Verfügung.
Man könnte zwischen „soften“ und „harten“
Tantra-Gruppen unterscheiden. Das sind entweder solche, die noch sehr behutsam mit der Thematik umgehen (Werbetext: Energiewahrnehmung, Sinnlichkeit und Sexualheilung, Beziehungsklärung, Begegnung und Energie) oder solche, die „Tantra für Rebellen! Energetisch und intensiv“ propagieren. Die Steigerung von Tantrawochenenden und Wochen sind „tantrische Jahrestrainings“. Die Vorreiterin solcher Jahrestrainings und mehrfache Buchautorin Margo Anand Naslednikov zum Beispiel hat ihr Jahrestraining für „Ekstase und Liebe“ in drei Zyklen unterteilt. Erster Zyklus: Energie und Orgasmus (die Freude des Körpers), zweiter Zyklus: Liebe (die Freude des Herzens), dritter Zyklus: Ekstase (die Freude des Geistes). Erwähnenswert ist der erfreuliche Hinweis: Als Weiterbildung anrechenbar für Ärzte, Psychologen und heilende Berufe! SkyDancing Tantra ist – so verspricht die Info – „ein einfacher, schrittweise vorgehender Prozeß für jeden, der einen sanften und bewußten Weg finden möchte, um die sexuelle Vereinigung als eine Brücke von Körper und Seele zu erfahren. Bei dieser Integration wird körperliche Lust zu einer Freude des Herzens und zu einer Ekstase des Geistes“.
Tantra wird sowohl für Singles
als auch für Paare angeboten, wobei allerdings manche Paare als Single oder neu gepaart aus einer Gruppe herauskommen. Und es ist auffällig, daß aus vielen Schnupper-Tantrikern „Wiederholungstäter“ werden, denn der meditative Umgang mit der Lust und die leichte und direkte Art der zwischengeschlechtlichen Kontaktanbahnung weckt die Lust auf „Mehr“, wobei nicht auszuschließen ist, daß man in Tantra-Gruppen auch sehr viel über sich selbst und einen bewußteren und genußvolleren Umgang mit seiner Sexualität lernen kann.
Quellen und Verweise
Margo Anand Naslednikov: Tantra oder die Kunst der sexuellen Ekstase, Goldmann, 1995
Nick Douglas – Penny Slinger: Das große Buch des Tantra, Sphinx, 1988
Micheal Plesse/Gabrielle St. Clair: Feuer der Sinnlichkeit – Licht des Herzens, Goldmann, 1992
Connection Special: Tantra – Liebe, Sexualität, Bewußtsein, Connection-Verlag
Es ist bewundernswert, ich bin 71 Jahre und frage mich, was ich es noch alles gibt. Man lernt nie aus!?!
Tantra ist nichts für Willensschwächlinge